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3. Anschlüsse
Die vorgeführten Fälle
der Visualisierung geben einen Eindruck davon, welch neue
Eigenschaften das Bild im Zeichen seiner Digitalität annimmt. Es
sei zum Abschluss nach den Konsequenzen für die Semiotik des
digitalen Bildes bzw. der Text-Bild-Relation gefragt.
Signifikation im Rezeptionsprozess lässt sich im allgemeinen in
zwei Schritte unterteilen: die primäre der vorliegenden Zeichen
und die sekundäre, die sich auf der Basis der primären
konstituiert. (6) Während die primäre Signifikation in
sprachlichen Äußerungen auf diskreten, an sich schon
bedeutungstragenden Elementen (Lexeme) beruht, besitzt sie in
ikonischen Äußerungen eine weit geringere Kodiertheit, denn
jedes wahrnehmbare Element (jede Linie, Form, Farbe) und deren
Kombination kann bedeutungstragend sein, muss aber nicht. Das Bild, so
Tietzmann, auf den ich mich hier beziehe, ist im Gegensatz zum Text "ein
Kontinuum nicht-diskreter Zeichen, das erst durch die Projektion
hypothetisch angenommener Signifikate auf das Bild als eine Menge
diskreter Zeichen strukturiert wird: was Zeichen ist, entscheidet sich
in Funktion der Bedeutung."(7) Im Falle unseres letzten
Beispiels lassen sich zwei Abweichungen von der herkömmlichen
Situation festhalten. 1. Nicht nur die sekundäre
Signifikation muss vom Rezipienten erstellt werden, auch die primäre
Signifikation ergibt sich erst im Prozess der Rezeption, denn die
dargestellte Situation liegt nicht von Anfang an vor. Aufgrund dieser
Prozeduralität gibt das digitale Bild sein traditionelles
Kennzeichen der synchronen Zustandshaftigkeit auf und nimmt narrative
Züge an. (8) Innerhalb dieser Vollendung der primären
Signifikation ergibt sich auch erst die Text-Bild-Relation, wobei der
Text hier als gesprochene Sprache auftritt. Die verbale Äußerung
ist, als Tiefeninformation des Bildes, auf ganz neue Weise in die
ikonische eingebettet und übernimmt deren Kennzeichen der
zumindest virtuell gegebeben Simultaneität der Elemente. (9)
Zugleich ist die verbale Äußerung in die Rezeptionshandlung
eingebettet, in der erst sie zur wahrnehmbaren Äußerung
wird. 2. Die Erscheinung des Bildes und der in ihm eingebetteten
Texte erfolgt nach den Kodierungsmerkmalen ikonischer Äußerungen.
So wie ikonische Elemente nicht per se aus diskreten Zeichen bestehen
und erst auf der Grundlage von Hypothesen zu solchen werden, so sind
auch all jene Zeichen, die hier als Tiefeninformation vorgeführt
wurden, nicht-diskrete Zeichen. Das betrifft z.B. die
Entfaltungsrichtung der Teleskopsätze im ersten Beispiel, das
betrifft die Anzahl und Dauer der Loops im zweiten oder die Anordnung
der ouseover-Events im dritten (gibt es z.B. einen Zusammenhang
zwischen dem Ort auf der Oberfläche, an dem ein Audio-File
aktiviert wird, also zwischen dem markierten Bildteil und dem daraus
resultierenden Text bzw. Ton?). Die Interpretation des digitalen
Bildes schließt die Verwandlung dieser nicht-diskreten Zeichen
in diskrete aufgrund projizierter Hypothesen notwendig ein. Das
erfordert freilich die Entwicklung einer entsprechenden Hermeneutik
der Tiefeninformation, die eine Hermeneutik der Interaktion, als dem
eingeplanten, zumeist nur vage oder gar nicht kalkulierbaren Faktor
der Zeichenkonstituierung, einschließen muss.(10)
Fussnoten
(1) Die Visualisierung wird
verschiedentlich konstatiert, so von Vilém Flusser ("entsetzlichen
gegenwärtigen Bilderflut"; Medienkulturen, Frankfurt am Main
1998, S. 69-82, hier: S. 71), W. J. T. Mitchell (The Pictorial Turn,
in: ders., Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representation,
The University of Chicago Press 1994, S. 11-34) Jay David Bolter ("breakout
of the visual"; Ekphrasis, Virtual Reality, and the Future of
Writing, in: Geoffrey Nunberg (Hg.), The Future of the Book, Berkeley:
University of California Press, 1996, S. 253-272 sowie Die neue
visuelle Kultur. Vom Hypertext zum Hyperfilm, Telepolis 2 [1997], S.
84-91) und Mitchell Stephens (The Rise of the Image, the Fall of the
Word; New York: Oxford University Press, 1998). (2) Dass
Leser im Angesicht des Spektakels die hermeneutische Arbeit vernachlässigen,
lässt ein Leserkommentar zum Epos der Maschine vermuten: "alleine
der umgang schrift und typographie! ich brauche gar nicht mehr zu
lesen! wie sich woerter ineinanderschieben und kreisen und erscheinen
und verschwinden und und und und und!" (vgl. in Besprechung zum "Epos"
in dichtung-digital) . (3) Vgl. dazu Gottfried Willems,
Kunst und Literatur als Gegenstand einer Theorie der
Wort-Bild-Beziehungen. Skizze der methodischen Grundlagen und
Perspektiven, in: Text und Bild, Bild und Text: DFG-Symposion 1988,
Metzler: Stuttgart 1990, S. 414. (4) Wenn die
Sprechinstanz des Textes im Bild abgebildet ist "erfüllen
die Bildpropositionen für die Textpropositionen dieselbe
bedeutungsbegrenzende Funktion (durch Desambiguierung,
Referentialisierung, usw.) wie reale Sprechsituationen für reale
sprachliche Kommunikation." (Michael Tietzmann,
Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der
Text-Bild-Relation, in: Text und Bild, Bild und Text: DFG-Symposion
1988, Metzler: Stuttgart 1990, S. 368-384, hier: S. 382) - Als
ikonische Zeichen werden hier, der Begrifflichkeit bei Tietzmann
folgend, ausschließlich nichtsprachliche Zeichen verstanden.
(5) "in Abhängigkeit von der Textbedeutung wird
die Interpretation, Fokalisierung, Hierarchisierung des
Bedeutungspotentials des Bildes vorgenommen, soweit es dessen Merkmale
erlauben" (Tietzmann, ebd, S. 382) "Durch Metapropositionen
des Textteils [
] können primäre Signifikate des Bildes
als sekundäre Signifikanten funktionalisiert und ihnen sekundäre
Signifikate zugeordnet werden: in der umgekehrten Richtung, von dem
Bild auf den Text wirkend, ist dieser Prozeß nicht möglich."
(ebd., S. 383). (6) "Ein elementares - primäres
- Signifikat ist demnach zum Beispiel die von einem Text oder einem
Bild dargestellte Situation." (Tietzmann, [Anm. 4], 376).
(7) Ebd., 378. "aufgrund von Wahrnemungs- und
Wissenstruktur werden manche Teilmengen von Bildelementen (etwa
menschliche Gestalt) schneller und sicherer als Signifikanten
interpretiert als andere (zum Beispiel der Hintergrund solcher
Gestalten)" (378f.). (8) Wir haben am ersten
Bild-Beispiel gesehen, dass das digitale Bild seine Elemente auch
unabhängig vom Input des Betrachters sukzessive erscheinen lassen
kann, was natürlich viel stärker im narrativen Sinne nutzbar
ist, wenn statt des ganzen Bildes nur Teile davon ausgetauscht bzw. Stück
für Stück hinzugefügt werden. (9) Insofern
die Menge simultan gegebener Elemente nur virtuell existiert und durch
unbestimmte Reaktionen des Rezipienten erst punktuell offengelegt
werden muss, wird die Präsentation der Elemente freilich wieder
auf das Prinzip linearer Sukzession rückgebunden. Zum anderen behält
jedes Textsegment (also jede Sound-Datei) natürlich seine
Sequentialität. (10) Man darf die Kalkulationsmöglichkeiten
freilich nicht unterschätzen, so wie man wohl in vielen Fällen
ihre bewusste Nutzung durch die Autoren nicht überschätzen
darf. Im vorliegenden Fall z.B. wäre zu fragen, inwiefern Leslie
Huppert durch das Setzen der Navigations-Button im unteren rechten
Bereich des Bildschirms dafür sorgt, dass die User sich mit der
Maus von dort auf das Mittelbild zu bewegen und zwangsläufig
zuerst das Mouse-Over-Event des rechten Teilbildes auslösen.
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