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Der versteckte Text: Aspekte digitaler Bilder

von Roberto Simanowski

 

3. Anschlüsse

Die vorgeführten Fälle der Visualisierung geben einen Eindruck davon, welch neue Eigenschaften das Bild im Zeichen seiner Digitalität annimmt. Es sei zum Abschluss nach den Konsequenzen für die Semiotik des digitalen Bildes bzw. der Text-Bild-Relation gefragt.
Signifikation im Rezeptionsprozess lässt sich im allgemeinen in zwei Schritte unterteilen: die primäre der vorliegenden Zeichen und die sekundäre, die sich auf der Basis der primären konstituiert. (6) Während die primäre Signifikation in sprachlichen Äußerungen auf diskreten, an sich schon bedeutungstragenden Elementen (Lexeme) beruht, besitzt sie in ikonischen Äußerungen eine weit geringere Kodiertheit, denn jedes wahrnehmbare Element (jede Linie, Form, Farbe) und deren Kombination kann bedeutungstragend sein, muss aber nicht. Das Bild, so Tietzmann, auf den ich mich hier beziehe, ist im Gegensatz zum Text "ein Kontinuum nicht-diskreter Zeichen, das erst durch die Projektion hypothetisch angenommener Signifikate auf das Bild als eine Menge diskreter Zeichen strukturiert wird: was Zeichen ist, entscheidet sich in Funktion der Bedeutung."(7)
Im Falle unseres letzten Beispiels lassen sich zwei Abweichungen von der herkömmlichen Situation festhalten.
1. Nicht nur die sekundäre Signifikation muss vom Rezipienten erstellt werden, auch die primäre Signifikation ergibt sich erst im Prozess der Rezeption, denn die dargestellte Situation liegt nicht von Anfang an vor. Aufgrund dieser Prozeduralität gibt das digitale Bild sein traditionelles Kennzeichen der synchronen Zustandshaftigkeit auf und nimmt narrative Züge an. (8) Innerhalb dieser Vollendung der primären Signifikation ergibt sich auch erst die Text-Bild-Relation, wobei der Text hier als gesprochene Sprache auftritt. Die verbale Äußerung ist, als Tiefeninformation des Bildes, auf ganz neue Weise in die ikonische eingebettet und übernimmt deren Kennzeichen der zumindest virtuell gegebeben Simultaneität der Elemente. (9) Zugleich ist die verbale Äußerung in die Rezeptionshandlung eingebettet, in der erst sie zur wahrnehmbaren Äußerung wird.
2. Die Erscheinung des Bildes und der in ihm eingebetteten Texte erfolgt nach den Kodierungsmerkmalen ikonischer Äußerungen. So wie ikonische Elemente nicht per se aus diskreten Zeichen bestehen und erst auf der Grundlage von Hypothesen zu solchen werden, so sind auch all jene Zeichen, die hier als Tiefeninformation vorgeführt wurden, nicht-diskrete Zeichen. Das betrifft z.B. die Entfaltungsrichtung der Teleskopsätze im ersten Beispiel, das betrifft die Anzahl und Dauer der Loops im zweiten oder die Anordnung der ouseover-Events im dritten (gibt es z.B. einen Zusammenhang zwischen dem Ort auf der Oberfläche, an dem ein Audio-File aktiviert wird, also zwischen dem markierten Bildteil und dem daraus resultierenden Text bzw. Ton?). Die Interpretation des digitalen Bildes schließt die Verwandlung dieser nicht-diskreten Zeichen in diskrete aufgrund projizierter Hypothesen notwendig ein. Das erfordert freilich die Entwicklung einer entsprechenden Hermeneutik der Tiefeninformation, die eine Hermeneutik der Interaktion, als dem eingeplanten, zumeist nur vage oder gar nicht kalkulierbaren Faktor der Zeichenkonstituierung, einschließen muss.(10)

Fussnoten

(1) Die Visualisierung wird verschiedentlich konstatiert, so von Vilém Flusser ("entsetzlichen gegenwärtigen Bilderflut"; Medienkulturen, Frankfurt am Main 1998, S. 69-82, hier: S. 71), W. J. T. Mitchell (The Pictorial Turn, in: ders., Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representation, The University of Chicago Press 1994, S. 11-34) Jay David Bolter ("breakout of the visual"; Ekphrasis, Virtual Reality, and the Future of Writing, in: Geoffrey Nunberg (Hg.), The Future of the Book, Berkeley: University of California Press, 1996, S. 253-272 sowie Die neue visuelle Kultur. Vom Hypertext zum Hyperfilm, Telepolis 2 [1997], S. 84-91) und Mitchell Stephens (The Rise of the Image, the Fall of the Word; New York: Oxford University Press, 1998).

(2) Dass Leser im Angesicht des Spektakels die hermeneutische Arbeit vernachlässigen, lässt ein Leserkommentar zum Epos der Maschine vermuten: "alleine der umgang schrift und typographie! ich brauche gar nicht mehr zu lesen! wie sich woerter ineinanderschieben und kreisen und erscheinen und verschwinden und und und und und!" (vgl. in Besprechung zum "Epos" in dichtung-digital) .

(3) Vgl. dazu Gottfried Willems, Kunst und Literatur als Gegenstand einer Theorie der Wort-Bild-Beziehungen. Skizze der methodischen Grundlagen und Perspektiven, in: Text und Bild, Bild und Text: DFG-Symposion 1988, Metzler: Stuttgart 1990, S. 414.

(4) Wenn die Sprechinstanz des Textes im Bild abgebildet ist "erfüllen die Bildpropositionen für die Textpropositionen dieselbe bedeutungsbegrenzende Funktion (durch Desambiguierung, Referentialisierung, usw.) wie reale Sprechsituationen für reale sprachliche Kommunikation." (Michael Tietzmann, Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relation, in: Text und Bild, Bild und Text: DFG-Symposion 1988, Metzler: Stuttgart 1990, S. 368-384, hier: S. 382) - Als ikonische Zeichen werden hier, der Begrifflichkeit bei Tietzmann folgend, ausschließlich nichtsprachliche Zeichen verstanden.

(5) "in Abhängigkeit von der Textbedeutung wird die Interpretation, Fokalisierung, Hierarchisierung des Bedeutungspotentials des Bildes vorgenommen, soweit es dessen Merkmale erlauben" (Tietzmann, ebd, S. 382) "Durch Metapropositionen des Textteils […] können primäre Signifikate des Bildes als sekundäre Signifikanten funktionalisiert und ihnen sekundäre Signifikate zugeordnet werden: in der umgekehrten Richtung, von dem Bild auf den Text wirkend, ist dieser Prozeß nicht möglich." (ebd., S. 383).

(6) "Ein elementares - primäres - Signifikat ist demnach zum Beispiel die von einem Text oder einem Bild dargestellte Situation." (Tietzmann, [Anm. 4], 376).

(7) Ebd., 378. "aufgrund von Wahrnemungs- und Wissenstruktur werden manche Teilmengen von Bildelementen (etwa menschliche Gestalt) schneller und sicherer als Signifikanten interpretiert als andere (zum Beispiel der Hintergrund solcher Gestalten)" (378f.).

(8) Wir haben am ersten Bild-Beispiel gesehen, dass das digitale Bild seine Elemente auch unabhängig vom Input des Betrachters sukzessive erscheinen lassen kann, was natürlich viel stärker im narrativen Sinne nutzbar ist, wenn statt des ganzen Bildes nur Teile davon ausgetauscht bzw. Stück für Stück hinzugefügt werden.

(9) Insofern die Menge simultan gegebener Elemente nur virtuell existiert und durch unbestimmte Reaktionen des Rezipienten erst punktuell offengelegt werden muss, wird die Präsentation der Elemente freilich wieder auf das Prinzip linearer Sukzession rückgebunden. Zum anderen behält jedes Textsegment (also jede Sound-Datei) natürlich seine Sequentialität.

(10) Man darf die Kalkulationsmöglichkeiten freilich nicht unterschätzen, so wie man wohl in vielen Fällen ihre bewusste Nutzung durch die Autoren nicht überschätzen darf. Im vorliegenden Fall z.B. wäre zu fragen, inwiefern Leslie Huppert durch das Setzen der Navigations-Button im unteren rechten Bereich des Bildschirms dafür sorgt, dass die User sich mit der Maus von dort auf das Mittelbild zu bewegen und zwangsläufig zuerst das Mouse-Over-Event des rechten Teilbildes auslösen.

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