Wenn es in
diesem Jahrhundert ein Ereignis gab, dessen plötzliches Eintreten niemand erwartet hatte,
war es der Fall des Eisernen Vorhangs. Dabei ist das Wort Fall
viel zu pathetisch für die Weise, wie alles plötzlich vorbei war: als hätte jemand
einfach den Fernsehkanal gewechselt. Das prägendste Bild, das mir vom Ende der Moderne in
Erinnerung bleiben wird, ist der erschossene Ceausescu, vom Hinrichtungstrupp festgehalten
auf einem dilettantisch abgedrehten Video. so ungelenk lag der Conducator da am Boden, als
wäre seine Erschießung von einem unerfahrenen Laientheater in einem Schrebergarten
nachgestellt worden. Die obligate Pelzmütze war ihm in die Stirn gerutscht. Unvergesslich
auch der vorletzte Akt im Leben des letzten tatsächlichen Märtyrers für die Sache der
Volksbeglückung: Die Pelzmütze saß noch und Ceausescu stand auf dem Balkon des
Regierungspalastes, als seine wie immer langfädige, floskelhafte Rede plötzlich von
Sprechchören unterbrochen wurde. Als er für Minuten verstummte, verstummten auch die
Sprechchöre, als hätten alle Anwesenden plötzlich verstanden,dass jetzt ein Bann
gebrochen war, der durch keine Sonderpolizei mehr wieder hergestellt werden konnte.
Lautlos wie Kartenhäuser huschten die politischen Systeme in Osteuropa vom Tisch. Nicht
die löblichen Proteste der Bürgerrechtler brachten sie zu Fall, es war das Zeitalter des
Politischen selbst, das sang- und klanglos verdampft ist. Stell dir vor, die machen
Politik und keiner schaut hin.
Das Zeitalter des Politischen wurde entworfen von Humanisten, die Platons
Politeia für die Neuzeit wieder entdeckten: Niccolò Machiavelli von der
praktischen, Thomas Morus von der utopischen Seite setzten die Maßstäbe für eine
weltliche Kultur politischer Macht, deren Gültigkeit wir gegenwärtig verschwinden sehen.
Der ideale Staat, in dem der König Philosoph war, beraten im Gespräch mit Philosophen,
diente als Leitstern ganz unterschiedlichen Interessen: Er nobilitierte die Politik des
Absolutismus, erregte die Gemüter von Frühsozialisten und Anarchisten und fand
schließlich einen totalen Höhepunkt durch Hitler und Stalin. Das utopische Ziel des
Politischen war die Beglückung der Menschheit durch eine Elite, die in ihrer Weisheit
wusste, was gut ist fürs Volk. Kennzeichnend ist das oft groteske Übergewicht von
Idealen über die ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Die Führer hatten ein
magisches Vertrauen auf die Wirkkraft des Wortes. Den Künsten wurde ein hoher Wert
zugeschrieben als Mittel politischer Überzeugung, Überredung und Beschönigung der
Verhältnisse. Daher mussten Kunst und Literatur, im Einklang mit Platons Empfehlung,
kontrolliert werden durch Philosophenkönige, die die Legitimität ihrer Macht durch eben
diese Künste zu untermauern pflegten.
Der Traum des Konsumenten
Den Humanismus als Wurzel des politischen Zeitalters hebe ich hier besonders hervor, da
Peter Sloterdijk kürzlich jenen zur Disposition gestellt hat im Habitus des
humanistischen Intellektuellen. Seine umstrittene Rede über die Regeln für den
Menschenpark zieht die Register des Königsphilosophen. Nicht anders verstanden sich
die gelehrten Ratgeber zu Hof: Als Stichwortgeber der Fürsten beschäftigten sie sich in
deren Auftrag mit Naturphilosophie, die das Schicksal der Gesellschaft berechenbar und
planbar zu machen versprach. Ihre Mittel Alchemie und Sterndeutung mögen
für uns heute lächerlich und wirkungslos erscheinen. Ich weiß nicht, ob künftige
Generationen unsere Hochschätzung der Gentechnologie nicht ähnlich einstufen werden. Als
Historiker kann ich nur zurück blicken und sehen, dass jedes Übermaß an Planung nicht
Paradiese, sondern Zauberlehrlinge hervor brachte.
Humanismus ist ein intellektueller Habitus gegenüber der Macht und nicht
nur ein Kanon verbindlicher Schriften. Nietzsches Hohn betraf eine Schrumpfform von
Kathedergelehrsamkeit: unsägliche Erinnerungen an die Gymnasialzeit in Schulpforta, wo
die dithyrambische Tragik des Griechentums über dem Büffeln unregelmäßiger Verben
verdampfte. Herrschaftswissen, das sich darauf beschränkt, die ersten Verszeilen der
Odyssee ex tempore skandieren zu können, gibt es heute nicht einmal mehr in der
Karikatur.
Die Krise des humanistischen Gesellschaftsideals zieht sich durch die Moderne, seit der
Philosophenkönig, umgeben von Königsphilosophen, Konkurrenz erhielt. In der Aufklärung
entwickelte sich die Idee, dass die Gesellschaft nicht durch weise Staatslenkung, sondern
durch Selbstregulierung des Markts und freie Individuen verbessert würde. Die Utopie der
Freiheit wurde zwar in Europa geboren, musste aber schon kurz nach der Französischen
Revolution in die Vereinigten Staaten emigrieren, weil im alten Europa mit den alten
Verhältnissen die alte Utopie des weisen Staatslenkers gültig blieb, mehr oder weniger
gründlich bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Freiheit wird nicht von der Politik
gelenkt, sondern von der Ökonomie. Politiker sind in diesem System die Prügelknaben für
Besorgnis erregende Statistiken und fallende Gewinnkurven, deren Ausschläge
unvorhersehbar ihre Tagesform ändern. Es ist nicht die Unfähigkeit der Politiker, die
diese so windig erscheinen lässt, sondern die Tatsache, dass sie auftreten, als würdene
ihre Reden die gesellschaftlichen Verhältnisse maßgeblich beeinflussen. In einem
gewissen Sinne gleichen sie alle ein wenig Herrn Ceausescu auf dem Balkon. Der freie Markt
braucht keine großen Worte, keine großen Gebärden seine Überzeugungskraft
steckt in den Waren, dem Stoff, aus dem die Träume der Konsumenten gemacht ist.
Die organischen Intellektuellen, wie Antonio Gramsci die kulturellen und
politischen Eliten treffend bezeichnete, hatten eine Langzeitbindung an die herrschenden
Kreise der Gesellschaft. Es wundert daher nicht, dass sie noch zur letzten
Jahrhundertwende mehrheitlich ambivalent bis ablehnend der Demokratie gegenüber standen
jenem Glück der Mücke nach Rilke, das, nach Nietzsche, mit
Sklavenmoral gesäuert sei. Unter den Stimmen, die heute wieder nach Eliten
rufen, gibt es solche, die ebenso laut deren Bündnis mit der Macht in jungen Jahren
angeprangert hatten: André Glucksmann in seinen Meisterdenkern, Peter
Sloterdijk in der Kritik der zynischen Vernunft. Wenn es um die Elitenrolle
geht, beziehen sich die Intellektuellen der 68er-Generation gerne auf Macchiavelli
wobei sie vergessen, wie schlecht er von den Medici behandelt worden war. Die wirklich
Mächtigen mögen es nicht, wenn Schriftsteller zur Theorie erheben, was sie als
Gewohnheitsrecht schon längst praktizieren.
Da sind wir bei der These: Die Rolle der Elite wurde im Verlauf der Moderne überholt.
Die Intellektuellen kamen immer zu spät, wenn sie zum Diskurs erhoben, was in
Politik, Ökonomie und Wissenschaft schon zur Tagesordnung gehörte. Goethe liefert das
Paradebeispiel: Dass die Physiker seiner Zeit die Farbenlehre zurückwiesen,
worin der Dichter die bereits hundert Jahre gültige Spektraltheorie Isaak Newtons
bekämpfte, konnte er nicht verwinden. Ein halbes Leben lang haderte er in einer Mischung
von enttäuschter Rechthaberei und Inkompetenz, die es nur auf dem Feld sprachlicher
Übermacht mit seinen Gegnern aufnehmen konnte.
Die literarischen Zeitgenossen des Turms, der nach seinem Ingenieur Alexandre Gustave
Eiffel benannt ist, ließen sich mit der Kutsche so durch Paris fahren, dass er außer
Sicht blieb. Er stand dreißig Jahre, als er endlich doch von der Avantgarde zum Fanal
künstlerischer Bestrebungen erklärt wurde. Verspätung kennzeichnet das Verhältnis der
Intellektuellen zur Technik: Jede Erfindung macht ihnen schmerzlich bewusst, dass da schon
wieder etwas auf den Markt kommt, an das sie nicht gedacht haben.
Das humanistische Modell der Meisterdenker ist nicht nur zurückzuweisen, weil es in
der Vergangenheit zur Komplizenschaft mit totalitären Systemen kam, sondern schlicht weil
es überholt ist. Die Eliten arbeiten zu langsam. Ihre Rolle war dem beharrenden Leben am
Hof von Fürsten gemäß, deren Denken sich in den Bahnen von Landbesitz, Grundrente und
kluger Familienplanung bewegt hatte. Die technologische Entwicklung heute ist zu
unberechenbar und überraschend, als dass sie eines Rates der Weisen bedürfte. Die
Revolution der neuen Medien wurde im Hinterhof bastelnder Computercracks ausgeheckt. Die
technischen und ökonomischen Impulse sind so wenig kontrollierbar wie Zyklone, die
auftreten, sich austoben und versiegen über dem Meer des Möglichen. Der Elite, dem
Epimetheus des Fortschritts, bleibt das Nachsehen, den Ergebnissen hinterher zu denken.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag das europäische System nationaler Eliten der Politik in
Trümmern. Es gab natürlich Widerstände gegen die kulturelle Kolonisierung durch die
Siegermacht der Vereinigten Staaten, doch, kompromittiert vom Mitmachen und vom
Vorbeisehen am Rassenwahn der Nazis, mussten die Bürger die neuen Messages Zähne
knirschend hinnehmen. Der Kaugummi des lässigen, lachenden und vielleicht gar schwarzen
GIs brachte die ausgemergelte deutsche Jugend auf den Geschmack. Der
RocknRoll war der Bote einer Globalisierung, dem der humanistische Kanon mit
seinem christlich-eurozentrischen Weltbild nur die guten alten Knickerbockers für die
Jungs und die gerüschten Küchenschürzen für die Mädels entgegen halten konnte.
Gaudeamus igitur und Heideröslein waren ausgesungen.
Bestand die humanistische Bildung in einem Gut, das über den Nürnberger Trichter
dämmriger Gymnasien von oben nach unten eingepaukt wurde, war Pop eine klare Sache, die
von unten hochgespült kam, die alle sogleich mochten und alle auch kaufen konnten. Fast
alle: Natürlich waren die Intellektuellen zunächst dagegen. Was sie nicht alles
erfanden, um dieser Springflut von jenseits des Atlantiks zu begegnen: Existentialismus,
Neomarxismus, Negative Dialektik es nützte nichts.
In den späten 70er Jahren bildete sich eine jüngere Generation von Intellektuellen
heraus, die sich mit Pop arrangieren konnten. Ihre Methode war ein kluger Mix aus
Kritischer Theorie, Strukturalismus und Phänomenologie. Mit Walter Benjamin teilte man
das Interesse für den Kulturmüll; wie man diesen semiotisch korrekt trennte und las,
lehrte Roland Barthes, während Merleau-Ponty dazu verleitete, diese geistige
Veranstaltung sinnlich entspannt zu genießen vielleicht bei einem jener exotischen
Spaghettigerichte, die damals die studentischen Wohngemeinschaften mit dem Duft des
Knoblauchs zu markieren begannen.
Kunst und
Geld
Die Pop-Kultur eröffnete eine neue Sichtweise auf die Welt: den flachen Blick von
unten. Hatten die humanistischen Eliten in Freimaurerlogen, Akademien und Politbüros
gethront, ist der Platz der Künstler und Intellektuellen heute mitten im Basar der Waren,
Moden und Meinungen. Die alten Geheimbünde sind durch offen auftretende Subkulturen
ersetzt worden. Ihre verwirrende Vielfalt ist unserem Zeitalter gemäß: Besser herrscht
transparente Unübersichtlichkeit als jene vornehme Verschwiegenheit der diskreten
Gesellschaft. Es gibt ja durchaus Bestrebungen, das System von Eliten zu restaurieren. In
den Leerraum abgewickelter Politik mit ihrem Parteienklüngel könnten esoterische Bünde
nachstoßen. Die Bewegung der Falun Gong und Scientology erkenne ich als den Versuch, die
globale Marktwirtschaft durch Sekten und Mafien zu unterwandern. Es wird eine Aufgabe des
kommenden Jahrhunderts sein, dass dies verhindert wird. Die Informationsgesellschaft muss
das Ideal der Transparenz und der ideologischen Neutralität aufrecht erhalten. Ein neues
Elitemodell führte nicht nur in byzantinische Erstarrung, sondern förderte einen
Hybrid-Calvinismus, der den Reichen ihren Reichtum als Gnade und die Armut der Armen als
gerechte Strafe Gottes auslegte.
Wenn schon das Ökonomische herrschen soll, dann in seiner ganzen Nüchternheit und
Umsicht. Aufgabe der Neuzeit und Moderne war es gewesen, das Politische zu kultivieren.
Jetzt geht es darum, das Geld zu zivilisieren. Auf Kaiser Vespasian geht der Satz zurück,
dass Geld nicht stinkt. Eine üble Eigenschaft, sofern sie die unappetitliche Weise seiner
Vermehrung verschleiert. Doch es steckt auch Tugend darin: Das Geld stinkt nicht, weil es
als allgemeinster Tauschwert neutral ist und sich in alle Werte verwandeln lässt. Geld
ist Information in abstraktester Wirkungsform. Als Leitwährung für alles
gesellschaftliche Handeln bürgt es für die Universalität des Tauschens. Es ist daher
der höchste Kommunikationswert. Von dieser Seite hat die Pop-Kultur sich des Geldes
angenommen. Für Warhol war Geld die herausragende Inspirationsquelle. Nicht nur, dass er
Dollarscheine porträtierte; er hatte erkannt, dass ein Siebdruck eine vergleichbare
Wertschöpfung in Gang setzt wie eine Notenbankpresse.
Die Gleichsetzung von Ästhetik und Ökonomik der Kunst geht einher mit dem Ende des
bürgerlichen Kunstbegriffs: eine komplexe Entwicklung, die mit Marcel Duchamp einen
ersten markanten Durchbruch erzielte und über einige Umwege und Gegenmanöver
schließlich um 1960 ihren Abschluss fand. Nennen wir Kunst im bürgerlichen Verständnis
das Kunst-Werk: Es lobt den Meister dank seiner gediegenen Fertigung. Erzeugt
wurde das Kunst-Werk vom Genie eines Autors, pathetisch ausgedrückt: von dessen
Schöpfer, was das Demiurgisch-Gottähnliche solchen Kunstverstandes
hervorhebt. Der Wert eines Kunst-Werks steckte zutiefst in ihm selber und war voller
Geheimnisse, Schönheiten und Belehrungen, deren Kenntnis durch geduldiges, andächtiges
Befragen erhellt wurde. Ein Kunstwerk war ein Original, ein unerschöpflicher Schatz an
raunender Weisheit, zu dem die Schulklassen, feiertäglich gescheitelt, ins Museum
pilgerten.
Um beim Geldvergleich zu bleiben: Ein Kunst-Werk ist ein Goldstück, dessen Wert, von
einem Autor aufgeprägt, durch Kenner zu entziffern war. Seit 1960 ist das nicht mehr so:
Kunst hat die Wertform einer gut lesbaren Banknote angenommen. Das Atelier eines
Künstlers wirkt als Notenbank, das Anteilscheine für eine bestimmte ästhetische Idee
ausgibt. Jeder künstlerische Akt strebt nicht mehr nach dem originalen Solitär, sondern
nach der Serie, nach der größtmöglichen Wiederholung. Erfolgreich sind Ideen, die sich
inflationär verbreiten lassen. Adressat ist ein Massenpublikum, eine tief schürfende
Hermeneutik durch Kunstvermittler ist unnötig. Die Betrachterinnen und Betrachter können
sich an der Anmutung der Aktion sagen wir: der Verhüllung des Berliner Reichstags
erfreuen. Hinter diesem Werk steckt tatsächlich nichts als der
Reichstag, der verhüllt ist. Wer es genauer wissen will, orientiert sich via Internet
über das künstlerische Verfahren: die Anzahl der technischen Mitarbeiter, die
Quadratmeterzahl der Stoffbahnen sowie deren Materialbeschaffenheit und so weiter. Die
Arbeitsweise von Christo zeigt zugleich, dass künstlerische Akte nicht mehr von
Schöpfern, sondern von Regisseuren hervorgebracht werden. Der Künstler gibt
Wahrnehmungsanweisungen an das Publikum. Dass ja keine Werkhaftigkeit an seinen Händen
kleben bleibe! Ein Star der Kunstszene pflegt die Ausführung seiner Ansichtssachen an
Assistenten zu delegieren.
Einige Regeln zum Mitmachen
1. Das Andere als Kontext
Ich kann mir nicht vorstellen, dass durch Züchtung bessere Menschen erzielt werden.
Planung bewirkt Verarmung der Vielfalt, wie alle Monokultur bisher zeigt. Nach meiner
Laienansicht erzeugt Zucht die Inzucht. Nun, ich bin nicht kompetent in Biogenetik, ich
kann nur von der Kunst sprechen. Hier wären Regeln und Normen der Ruin jeder
Kreativität. Wenn in der Kunst etwas gehütet werden muss, dann gewiss kein vorbedachter
Plan. Die Künstler sind Hüter des Zufalls, diesem Prinzip des Werdens.
Musikclips von MTV geben einen guten Überblick über die Art, wie Menschen sich
gebärden und aussehen können: dicke, dünne, lange und kurze, in Schwarz, Weiß, Gelb,
Rot und Cross Over. Das Showgeschäft kultiviert geradezu die Palette der Rassen und die
Abweichung von der Norm. Ist eine Figur besonders schön, dann überschlägt sie sich
bestimmt in launiger Weise zur Karikatur des Normalen. Pop folgt dem Gesetz der Mode: dem
stetigen Überreizen der Regel. Kunst und Mode brauchen das angeblich Hässliche und
Skurrile als produktive Kraft, die Trägheit gewöhnlicher Geschmackserwartung immer
wieder zu durchbrechen. So wenig Langzeitprognosen für die Börse zu machen sind, so
wenig für Kunst und Mode. Ein Produktionsgesetz gilt für beide: Jede Neuheit besteht im
Überbieten oder Unterbieten der bestehenden Verfahren und Formen im Angebot, im Ein- oder
Ausschluss von bestehenden Produktionsgruppen und Geschmacksströmungen.
Die Pop-Kultur frönt dem Mythos der Differenz. Man spielt den Anderen und richtet sich
dabei an die Andern. Exotismus ist das Salz des Kunstmarkts. Pop bietet Folklore im
Weltmaßstab. Ihre Akteure wohnen zwar alle in Metropolen, kommen in Kunstform jedoch aus
einer Scheinheimat, deren Klischees und Projektionen sie ironisch bedienen.
2. Das System künstlicher Regionalisierung
Je globaler die ökonomische und technische Vernetzung, desto regionaler wird die
Kunst. Regional jedoch nicht im Sinne naiver Suche nach dem Seinigen, im
Gegenteil: Pop stellt Identität her durch Inszenierung von Differenz. Sie weckt die
Sehnsucht nach Andersheit, worin wir uns alle gleich sind.
Eine kulturwissenschaftliche Studie, welche die imaginäre Topografie der Ethnofolklore
beschreibt, steht noch aus. Diese Kunstkontinente, -regionen und -dialekte sind im steten
Fluss, ein höchst angesagter Mix ist noch immer Asian Pop aus Japan: Multimedia-Kunst in
der Mischung von High-Tech, Konzeptschrift und Sado-Maso. Ein Dauerbrenner ist das Black
Native American Label im Musikclip vom Typ versiffte Stadtkulisse und Rhythmen
durchtrainierter Härte. Wieder im Kommen, wenn auch harmlos, sind die Farben der
Sandmalerei und die Höhlenstrichmännchen der australischen Aborigines, die sich nicht
nur auf Leinwand, sondern auch auf Teppich, Bettwäsche und Lampenschirm gut machen. Etwas
schwerer tun sich die Versuche afrikanischer Künstler, die einheimische Traditionen des
Schamanismus im Sinne von Joseph Beuys umdeuten. Etwas ausgereizt ist auch die Strategie
zentralamerikanischer Künstler, die naive Anmutung von Ex-Voto-Bildern und figürlichen
Ladenschildern mit dem Surrealismus Frida Kahlos zu verknüpfen. Dennoch: Die allgemeine
Tendenz an der Kunstbörse ganz im Rahmen politischer Korrektheit, denn in Pop
steckt mehr Moral, als offen eingestanden! geht zu Gunsten der ehemaligen
Randgebiete des Globus. Hier sind Neuheitswerte relativ kostengünstig zu realisieren.
Kunst eines DAAD-Stipendiaten aus Kuala Lumpur verleiht der Lobby einer Bank den Anstrich
eines global denkenden Unternehmens.
Die Kunst aus Europa und Nordamerika, bis in die siebziger Jahre unbestritten in
Führung, steckt in einer Absatzkrise. Hier hat das Dogma von der einen und unteilbaren
Kunst in die Sackgasse geführt. Es gibt keine Kunstmetropole mehr, wo Päpste und
Gegenpäpste von Stilen, Moden und Meinungen ihre Edikte an die Kulturprovinzen ergehen
ließen. New York, das nach dem Zweiten Weltkrieg Paris ablöste, muss seinen Anspruch mit
Los Angeles und Hongkong teilen sowie mit kunsttouristischen Wechselschauplätzen wie
Prag, Berlin, Bilbao und überall, wo gerade ein neues Museum eröffnet wird.
Europäische Künstlerinnen und Künstler müssen im Sinne künstlicher
Regionalisierung umdenken und sei es nur, um an der nächsten Biennale Venedig wieder mehr
Einschalttreffer zu erzielen. Die Deutschen stehen gar nicht so schlecht da; sie haben,
anders als etwa die Franzosen, ein Gespür fürs Regionale. Eines ihrer Trade-Marks, neben
dem Kunstkalauer, ist das Expressive, Grobe. Allerdings kann es an die ethischen Grenzen
des Geschmacks gehen, wenn mit der Erinnerung an die Nazizeit als ästhetischem Label
gewuchert wird.
3. Uneigentlicher Gebrauch von Technik und Material
In der alten Kunst waren die technischen Verfahren Mittel zum Zweck. Bildhauerische
Techniken und Kniffe, Methoden der Farbmischung waren bestgehütetes Geheimnis der
Meisterwerkstatt und hatten für die Aussage selbst nichts zu bedeuten. Es ging um die
Erscheinung von Inhalten, die das Werk auszustrahlen hatte; Allenfalls stellte die
Sichtbarkeit des Verfahrens den virtuosen Umgang des Schöpfers mit seinen technischen
Mitteln unter Beweis. Im Pop-Zeitalter jedoch wird das Verfahren selbst zum Inhalt der
Kunst nach Marshall McLuhans allbekanntem Satz: Das Medium ist die
Botschaft. Am Kunstfoto interessiert nicht das Dargestellte, sondern die körnige
Struktur; am Kunstvideo der Flimmereffekt und die kontingenten Verwischungen; am digitalen
Bild der Reiz des Unwahrscheinlichen in der naturgetreuen Simulation.
Alle künstlerischen Verfahren im Pop-Zeitalter lassen sich auf einen Nenner bringen:
Kunstproduktion besteht im uneigentlichen Gebrauch von Technologie. Künstler sind
Anwender von Material, das nicht für die Kunst erfunden wurde. Autolack, von Jackson
Pollock auf Leinwand getropft, erzeugt das, was John Dewey Eine Erfahrung
nennt. Während wir in der gewöhnlichen Wahrnehmung pausenlos von Signalen umtost werden,
aus denen wir die uns nützlichen Informationen herausfiltern müssen, wird in der
Wahrnehmung von Kunst diese Überfülle verlangsamt, verfremdet oder ganz stillgelegt.
Ästhetische Erfahrung kommt durch eine Verknappung der Sinnenreize zu Stande. Das
Anhalten von Wahrnehmung gibt uns Aufschluss über die Natur des Wahrnehmens. Ihres
instrumentellen Zwecks entkleidet, werden Zeichen als Zeichen erkennbar und prüfbar in
ihrer Wirkung auf uns. Das Ethos der Kunst im Pop-Zeitalter besteht in der Unterbrechung
von Praxis, dieser Bedingung der Möglichkeit nachzudenken.
4. Sportliche Ökonomie: ein Künstlerleben
Picassos Werkmonografie liest sich noch wie ein stilistischer Entwicklungsroman. In
herkulischer Anstrengung rang der Künstler mit dem Naturalismus, dem Symbolismus, dem
Kubismus, dem Surrealismus und stellte damit die Zeugungsgewalt des Schöpfers unter
Beweis. Zusammen mit dem bürgerlichen Kunst-Werk ging es auch mit dem heroischen
Künstlerleben zu Ende. Man schneidet sich kein Ohr ab, um sich im Kunstbetrieb
einzufädeln. Es gilt, ökonomisch zu verfahren.Ein wichtiger Ratschlag an junge
Künstlerinnen und Künstler: Bitte nur ein Verfahren pro Karriere einreichen! Der
Berufsstand ist durch den nie versiegenden Bedarf an Neuheiten so inflationär
angewachsen, dass sich die Einzelnen darauf beschränken sollten, in diesem Gewimmel eine
gut erkennbare Trade-Mark zu setzen. Eine heterogene Kunstproduktion verunklärt die
Marktchancen. Die jungen Künstlerinnen und Künstler setzen ihren Chip im Roulette des
Kunstbetriebs. Ein erzielter Treffer sollte sofort eingefahren, weitere Würfe vermieden
werden. Nach gehabtem Erfolg bleibt nichts anderes übrig, als mit dem einschlägigen
Verfahren gut zu altern.
Kultursoziologisch haben Sportler und Künstler einiges gemeinsam. Sie müssen jung
sein. Für das Spiel an der Kunstbörse braucht es Leute mit einem überraschenden Blick
auf die Welt, wie sie jetzt sich ihnen bietet. Lebenserfahrung und zu viel technische
Könnerschaft wirken störend; sie immunisieren das vorbehaltlose Wahrnehmen gegen
Überraschungen. Wie bei einem Sportler ist die Aktualitätsspanne von Künstlern recht
kurz und wird überholt von neuen Leistungen, neuen Überraschungen. Das heißt nicht,
dass Künstler im Gespräch bleiben, gewissermaßen in der Backlist der Museen. Dazu
müssen sie, zusammen mit ihren Galeristen, ihren Künstlergruppen, durch umsichtig
geplante Aktionen öffentliche Aufmerksamkeit dauerhaft hoch halten für ihre einmal
gesetzte Idee. Sie verkaufen nicht mehr eine Neuheit, sondern deren Wiedererkennungswert.
Die großen Meister der Nachmoderne haben diese Ästhetik der Redundanz bravourös
vorgelebt. Wer denkt nicht bei einer Campbell-Suppendose an Andy Warhol, wer nicht bei
einem verhüllten Baugerüst an Christo. Meister aller Klassen ist auch hier Marcel
Duchamp, dem es gelungen ist, dass jeder einigermaßen kunstinteressierte Mann beim
Pinkeln in öffentlicher Toilette an ihn denkt.
Die vielleicht wichtigste gesellschaftliche Eigenschaft von Kunst und Sport ist die
Aufstiegschance aus dem Nichts. Kunst im Pop-Zeitalter braucht kreativen Instinkt, aber
keine akademische Bildung. Pop ist das Glücksrad der Unterschichten und nährt in unserem
nun schon über 200 Jahre alten Kapitalismus den jung gebliebenen Traum, dass man es
vielleicht vom Anstreicher zum Millionär bringt. Jedes erfolgreiche Stück Pop-Kunst
liefert den Beweis, dass wir alle gleich sind vor der Verheißung, es gäbe einen Weg nach
oben für alle. Man muss ihn nur finden.
Beat Wyss lehrt Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart.