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Von der Resistenz der Moderne

von Mario Andreotti

 

<Abstract>

Zeitenwenden sind gerne Anlass zu einer Neubesinnung, auch wenn sie Zufall sind, erlangen runde Jahreszahlen wie 2000 Bedeutung. Die literarische Zäsur allerdings hat gleichsam im Fin de Siècle eingesetzt, um 1990, als mit dem Fall der Berliner Mauer die grossen Geschichten endgültig verabschiedet wurden. Ind iesen Jahren aber verstarben auch Frisch und Dürrenmatt und Thomas Bernhard. Zugleich hat eine neue Generation, die 78er, der Postmoderne zum Durchbruch verholfen, weil für sie das Erbe der klassischen Moderne nicht länger normative Gültigkeit behalten hat. Was folgt nun, im Jahr 2000: eineneue zweite Moderne?

Drehen wir das Rad nochmals zurück. Bis 1968 funktionierte die klassische Moderne als ästhetische Norm. Sie war aufgrund einer fundamentalen Krise zwischen Mimesis und Abstraktion entstanden. Hoffmanntshals Sprachkrise (Chandos-Brief) bezeichnet den Schnitt: die Konvention war zerstört, Wort und Wirkichkeit (signifié und signifiant) fielen auseinander. Mit dieser Krise ineins geht eine Subjektkrise. Auf ästhetischer Seite bedeutet dies, dass eine naturgetreue Wiedergabe von Wirklichkeit nicht möglich ist, die Abstraktion so präzist ist wie jedes gemalte Abbild sonst. Zudem hat die Fotografie auch der vollendesten Kusntfertigkeit den Rang abgelaufen.

Mit dem Jahr 1968 verbindet sich auch das Ende der klassischen Moderne. Neue Forderungen wurden an die Literatur gestellt, Forderungen nach einer "littérature engagée", nach der Abschaffung der Literatur, was sich etwa in dokumentarischen Experimenten oder "Literatur aus der Arbeitswelt" äussert.

Die Postmoderne "rettet" die Literatur aus diesen Versuchen ihrer Abschaffung, als Fortsetzung der Moderne und ihrer Umwandlung. Die Moderne bleibt wirksam: also Elemente wie Montage und Collage, Sprachexperimente und Verweigerung der grossen Publikumsgunst. Die Postmoderne verschleiert ihre Unfähigkeit, "modern" zu schreiben, mit einer Hinwendung zu genuin erzählerischen Formen, aber damit auch zu überwunden geglaubten altbackenen Erzählformen. Am ehesten widersteht die Lyrik den postmodernen Schreibweisen; das Experiment bleibt ihr erhalten.

Postmoderne meint in diesem Sinn die Reflexion der Moderne, verbunden mit einer Kritik an ihr auf der Grundlage, dass sich die modernen Mittel der Literatur erschöpft haben. Damit verbindet sich ein spielerischer Umgang mit der Tradition. Alles Geschriebene besteht aus bereits geschriebenen Texten, wie Eco sagt. Intertextualität, Mehrfachcodierung und Genre-Mischung sind neue (alte) Mittel. Über Intertextualität ist beispielsweise das Liebesgedicht wieder möglich geworden. Wo die Moderne die Fabel experimentell verkomplizierte, setzt die Postmoderne wieder aufs Erzählen - mit einem RRückfgriff auf die  Formtradition, doch spielerisch aufgelockert.

Hier setzt die Entwicklung der Netzliteratur an mit ihrer spezifischen Struktur: offene Dramaturgie, aktualisiertes Lebensgefühl, Zitatkultur. Teils Elementen der Postmoderne also. Doch auch die Moderne in der Form einer "zweiten Moderne": mit neuem Hermetismus (etwa in der Lyrik) und Zersetzung der snytaktischen Strukturen, bietet Ansatzpunkte für die Netzliteratur.

Die Literaturtheorie eilt von einer begrifflichen Neuschöpfung zur nächsten. Die Zahl all der Modernen und Postmodernen, die in den letzten Jahren postuliert worden sind, lässt sich kaum mehr überblicken. Inhaltlich und formal dagegen demonstriert die Literatur (wie andere Künste auch) einen bemerkenswerten Konservativismus. Das theoretische Potential wird nur vereinzelt auch experimentell verwirklicht. Häufiger wer­den noch immer an sich traditionelle Grundmuster wie lineare Erzählhandlung und homogene Erzählerfigur gepflegt. Die Gründe dafür sind vielschichtig, eines ist dabei aber nicht zu übersehen: Literatur, so sehr sie sich als Kunst an der Sprache versteht, bleibt wesentlich geprägt vom Bedürfnis nach Geschichten. Klatsch ist eines ihrer wichtigsten Fundamente, das „Fait divers“ oder die „Vermischte Meldung“ ihre beste Quelle.
Diese Feststellung mag simpel erscheinen, gleichwohl ist es von Vorteil, genauer Bescheid zu wissen, tiefer in die Materie einzudringen, sei es nur, um die Simplizität fundierter belegen zu können.
Unter dem Aspekt der neuen „Netzliteratur“ interessieren zwei Begriffe, die schon im Zusammenhang mit der literarischen Moderne und ihrer „Überwindung“ durch die Postmoderne  Bedeutung erlangt haben: Gestus und Simultaneität (bzw. Montage und Dissoziation). Die gestische Struktur bestimmt einen Text nicht mehr nach individueller und symbolischer Logik, sondern anhand eines Netzes von diversen Bestimmungen, Handlungen und kollektiven Grundkräften.
Das Prinzip der Simultaneität beschreibt eine textuelle Mehrschichtigkeit, die offen, parallel oder auseinanderlaufend (dissoziativ) sein kann. Gestus und Simultaneität lösen den kohärenten Erzähler auf zugunsten einer polyperspektivisch angelegten Erzählinstanz. „Ein grundsätzlich verändertes Bewusstsein erfordert ein verändertes Erzählen“, folgert der Autor. Knifflig an dieser Definition ist aber, dass vieles, was modern geheissen wird, gar nicht modern ist. Das narrative Gerüst des 19. Jahrhunderts überlebt bis heute in den meisten Texten. Klassische Beispiele für die Moderne dagegen gelten gerne als schwer zugänglich: Döblin, Joyce, Musil oder Carl Einstein.

Die Netzliteratur vollzieht hier einen Spagat, indem sie die moderne Avantgarde wieder ins recht einetzt: simultane Texte, Aufgabe der geschlossenen  Dramaturgie etc. Auf der anderen Seite aber bleibt das Erzählen eine gut gehütete Instanz, die nicht leichtfertig preisgegeben wird. Gestus und Montage können als begriffliches Gerüst dienen, um auf bewährtem germanistischem Fundament eine Annäherung an Literaturformen zu wagen, die von den eingefleischten Literaturwissenschaftsgemeinde meist  abschätzig betrachtet und als unliterarisch abqualifiziert wird. 

(bm)


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