Newspeak? Chat und e-Mail |
von Martin Wyss |
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<Abstract> Chats - also die schriftliche Echtzeit-Kommunikation von einander im Grunde unbekannten Menschen, ist in mehrfacher Hinsicht eine kommunikative Zwitterform. Sie ist schriftlich und mündlich, sehr persönlich und anonym, einfach und technozentriert. Doch Chats erfreuen sich grosser Beliebtheit, auch wenn es zuweilen Hemmungen gibt, deren Nutzung zuzugeben. (Vergleichbares gilt für die ausgefeilteren fiktiven Rollenspiele in den MOOs und MUDs). Es bestehen darüber
viele Vorurteile. Etwa, dass es nur um Sex geht (Kontaktbörse für
one-night-stands), dass die Nutzung von Chats ein Eingeständnis
von sozialer Vereinsamung sei, oder dass Chats mit geringen
Kostenfolgen süchtig machen würden (vgl. Sherry
Turkle, bzgl. der MUDs). Chats zerstören die
gute Sprache, wird oft gehört; die Ausdrucksweise in diesem
Medium sei erschreckend banal, inkorrekt und abkürzend. Auf der
anderen Seite, gilt es gleich einzuwenden, erhöht der Chat
durchaus auch die Sprachsensibilität. Es gibt keine Gestik oder
Mimik, alles muss mit Worten ausgedrückt werden, das über
persönliche Themen, die indirektem Gespräch gerne
verschwiegen werden. Kommunikativ zu werden in diesen Bereichen, kann
demnach, trotz des "Stammelns" mitunter, nicht als Verarmung
angesehen werden. Zudem kann auf diesem Weg eine Vertrauensbildung zur
eigenen Sprache stattfinden, was sich wiederum aufs persönliche
Bewusstsein positiv auswirken kann.
Kurzum: Die sprachliche Kreativität, das Differenzierungsvermögen, das Chats erfordern, weil alles über Sprache läuft, bedienen sich zwar nicht allein aus dem Fundus der grammatikalisch-orthographischen Korrektheit, aber sie sind kreativ, weil gleichsam das Bewusstsein, mit Sprache sich selbst darstellen zu müssen, eine erhöhte Aufmerksamkeit auf die Sprache selbst entsteht. Chats können durchaus sprachbildend wirken. Anders verhält es sich
tendenziell bei den E-Mails und weit mehr bei den SMS-Nachrichten.
Im Grunde stellen Chat, E-Mail und SMS ähnliche Fragen bezüglich der Schreibkultur, wie es traditionelle "Schriftgelehrte" seit längerem tun: nämlich dass digitales Schreiben der Schreibkultur nicht förderlich sei, einen Stil der Beliebigkeit und Redundanz fördere und die Leiblichkeit / Materialität der Druckschrift ausblende. Diese Unkenrufe werden nur teilweise bewahrheitet; so wie auch nicht jede Füllfeder- und Druckschrift das Papier verdient, das sie benötigt. Ignoriert wird gerne, dass die Zeit weiter läuft, die neuen Formen keineswegs den alten Stil verunmöglichen und zudem neue Kreatitivät gefördert wird. Vorurteile -zumal wenn sie aus Furcht vor den neuen Dingen geäussert werden - nützt wenig und befleissigt sich einer ähnlichen Schnoddrigkeit, wie sie den neuen Medien angelastet wird. Es braucht also vermehrt eine konstruktive Diskussion, die Stärken und Schwächen abwägt und differenziert. (bm) |
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