Lesen und Gesellschaft. Von Frankenstein zu Star Gate |
von Felix Keller |
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Die Welt als Fries Wenn nun aber eine eigentliche Revolution hin zur Schriften- und dann zur Bilderflut stattfindet - und diese ist m.E. keineswegs bloss über die elektronischen Medien indiziert -, dann bedeutet dies auch, dass der Leser selbst verschwindet und sich zum Betrachter wandelt: seine Tätigkeit beinhaltet nicht mehr ein Entziffern, dekodieren, korrigieren und interpretieren, sondern beinhaltet Schauen, Betrachten, Beobachten und ?berwachen. Die visuelle Literazität ist damit nicht mehr vollumfänglich unter dem Aspekt der Textualität zu begreifen, so argumentieren die Vertreter des Pictorial Turn.[20] Der Wandel der Lese- und Schreibweise müsste folgerichtig auch immense Konsequenzen bezüglich der Vergegenwärtigung und Produktion von Gesellschaft haben, die in der Triade Literatur-Buch-Lektüre ihr wirkungsmächtiges Ideal gefunden hatte. Genau so wird denn auch befürchtet, und dies, so meine ich, mit gewichtigen Argumenten. So sieht beispielsweise Schulter-Sasse in dem Wandel von einer Lese- und Schriftkultur hin zu einer visuell orientierten Kommunikationskultur nichts weniger als die ganze Gesellschaft sich verändern. Nicht mehr Texte sind auschlaggebend und damit in irgend einer Weise durchkomponierte, logische Argumentation, die ein erkennendes und handelndes Subjekt beinhaltet, sondern eine direkte Steuerung der Subjektivität über Images. Denn Bilder, und Schulte-Sasse bezieht sich hier auf Freud, haben unmittelbaren Kontakt zum Unterbewusssten selbst, denn die Sprache des Unterbewussten ist selbst visuell. Damit wird letztlich das Subjekt selbst, die Ich-Struktur umgestaltet, wenn die Gesellschaft nicht mehr über sprachliche orientierte Instanz des ?ber-Ichs mit dem sozialen Aussen korresponidert. Letztendlich wird die ganze menschliche Subjektivität damit reorganisiert, oder radikaler noch: überflüssig gemacht in einem sich entwickelnden telekommunikativen System von Reizen und Rückkoppelung von Reizen. Mehr noch, in Anlehnung an den von Habermas entworfenen Horizont der kommunikativ vermittelten Lebenswelten, die erst Gesellschaft und Rationalität zulässt, lässt die Befürchtung entstehen, dass der gesellschaftrsibldende lebensweltliche Zusammenhang über eine zunehmende «Visualiserung der Realität» eigentlich verlustig geht, Gesellschaft im emphatischen Sinne damit verschwindet und vollständige Desontierung hinterlässt.[21] Dieser besorgten Sichtweise basiert allerdings auf Annahmen, die sich nicht ohne Weiteres aufrecht erhalten lassen. Zunächst zum Argument, dass Bidlichkeit die Vergesellschaftung verunmöglichen. Gerade Guy Debord, der in den sechziger Jahren die Spektakulisierung der Gesellschaft über Images und Bildlichkeit heranziehen sah, geht ganz ursprünglich bei seinen Analysen davon aus, dass Bilder auch Gesellschaft ermöglichen: «Le spectacle n'est pas un ensemble díimages, mais un rapport social entre des personnes, médiatisé par des images.» Vielleicht stiften eine über Bilder mediatisierte Gesellschaft eine andere Gesellschaft, aber Gesellschaft lassen sie ebenso entstehen. Nicht ganz überzeugend ist auch der neue direkte Kontakt zum Unterbewusstsein. Vermögen dies andere Zeichensysteme nicht auch? Weshalb das Phänomen der Zaubersprüche, der Zahlenmagie`, des rituell wiederholten Gebets? Auch dass das Lesen von Bildern im Sinne einer selbstreflexiven Konstitution von Bewusstheit behindert ist, hält einem näherem Betrachten kaum stand. Als Gegenmodell sei hier auf Peter Weiss' «Ästhetik des Widerstands» verwiesen. Die Interpretation und die Entzifferung des Pergamon-Fries, ist es nicht gerade ein paradigmatisches Beispiel einer vergesellschaftenden Lektüre ganz im Sinne einer «ursprünglichen» literarischen Öffentlichkeit? Der Pergamon-Fries, vielleicht schon dazumals Spektakel im Debordschen Sinne, es wird der hegemonialen, unmittelbar verständlichen Deutung eigentlich entrissen und mit eigener Erfahrung der Arbeiterexistenz gelesen: Die Eingeweihten, die Spezialisten sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das Ineinandergreifen der Gesten, die andern aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissnen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eignen Fleisch. Genuss vermittle das Werk den Privilegierten, ein Abgetrenntsen unter strengem hierarchischen Gesetz ahnten die anderen. [22] Diese Wahrnehmung ist nicht ohne das Fries zu denken, im Fries vermittelt sich eine Wahrnehmung, die zuvor sprachlich nicht vorhanden war, also haben hier sprachlicher Diskurs und Bild eine je eigene Qualität, die als solche nicht einfach bloss übersetzt werden kann, sondern je ihre spezifische Ebene aufweisen. Ironisch liesse sich nun fragen: Was wäre,wenn Frankenstein nicht Goethes Werther gelesen hätte, sondern den Pergamnon Fries, auf einmal sich mit Titanen anstatt trister Bürgerexistenz auseinandergesetzt hätte? Hätte er seine Erfahrung dann geteilt gefunden? Mehr noch: wenn die Demokratisierung des Lesens nie stattgefunden hat, das «klassische» Lesen von guten Büchern bei seiner Auschliesslichkeit im eigentlichen Sinne des Wortes verblieben ist, beinhaltet dann nicht gerade die vielbesagte Bilderflut eine Möglichkeit der Verbreitung des Lesens im weiteren Sinne? Oder aber, ist das Bilderlesen vielleicht gar noch eine exklusivere Tätigkeit als das Lesen von Büchern, während die breiten Massen von der alltäglichen Bildlichen Wucht überwältigt sind, verstummen? Erinnert demgegenüber die Rede vom gesellschaftlichen Verlust nicht wieder sehr an die kulturpessimistische Sichtweise, die bereits mit dem Verschwinden der literarischen Öffentlichkeit aufgetaucht ist? Wer besagt, dass diese nicht recht hat? next
[20] Worunter wiederum vornehmlich W.J.T. Mitchell fällt. [21] Vgl. hier Müller-Dohm. [22] Weiss, S. 9. |
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