Lesen und Gesellschaft.  Von Frankenstein zu Star Gate

 

von Felix Keller


Gesellschaft 3

Die Wiederkehr des Monsters

Die Triade Autor, Buch und Leser, zusammengehalten über das Medium der Schrift, sie verkörperte, um das hier ausgebreitete Argument zusammenzufassen, eine historisch höchst kontingente Form der Vergesellschaftung. In dem wir aber noch in den Kategorien und Wertsysteme in der Gesellschaft leben, die sich über diesen Zusammenhang gebildet hat, erhält diese Triade nach wie vor als realitätsschaffendes Ideal, obwohl dieses Ideals nur wiederspruchsvoll hat verwirklicht werden können, ihre historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen längst abhabenden gekommen sind. Autor, Buch und Leser, dies sind die Figuren eines Auschlusses war es seit jeher und ist es geblieben - trotz der Utopien und Ängste vor einer Demokratisierung respektive Vermassung des Lesens. Wenn aber der Begriff der Lektüre weiter gefasst wird und ebenfalls die Vorstellung der Schrift, dann stehen wir vielleicht an einem Moment, wo andere Lesepraktiken und andere Schreibweisen andere Formen von Vergesellschaftung, die sich nicht in die rigide Ordnung von Staats-, Klassengesellschaften übertragen lassen. Abhanden gekommen wäre damit auch die Idee der Welt, der Gesellschaft als Buch, als ein geschlossenes Ganzes, das darauf wartet ausgelegt zu werden. Denn Staat und Buch, die Disziplinierung von Bürgern und Zeichen, sie haben vielleicht mehr gemeinsam, als man auf den ersten Augenblick denken könnte: Territorien, klare Umgrenzungen, ein Zentrum, das dem Staat seine Stellung beweist, und die darin erscheinenden Zeichen diszipliniert wie Staatsbürger (sind die Zeichen nun geschrieben von Goethe oder von einer schrifstellernden Hausfrau, vergegenwärtigen sie hohe Wissenschaft oder tumbe Esoterik, als dies wird über das «Buch» als Territorium umrissen) Erkauft werden müsste diese Transformation allerdings mit Verlust aller stabilisierter Bedeutung, mit Verlust der Sicherheit in festgefügten Zeichensystem, für jene, denen es erlaubt worden ist, sie zu erlernen weil Materialität und Semantik, Bild und Schrift sich in einem fort und jenseits der gesprochenen Sprache sich immer neu durchdringen, ohne zu einem Stillstand kommen  zu können.

Am Eingang des Referates stand die Leseweise eines Monsters. Frankenstein als Leser Goethes. Es war die Lektüre, die ihme eine Unmöglichkeit offenbarte, und damit hat die Geschichte eine Wende zu einem fatalen Drama genommen, das alle Beteiligte in den Tod zieht. Nun sind wir in der Fiktion einer anderen Zeit gelangt, in der die Welt als elektronisch genierter Bilderschwarm ebenso sehr wie in bukolischen Büchersäälen erscheint. Jede Zeit hat ihre Monster, was wären aber die Monster dieser Zeit, in denen Schreib- und Leseweisen sich nun gänzlich anders verhalten? Man müsste dieses Monster erst erfinden. Der Cyborg, der prothenhaft elektronisch erweiterte Mensch, ist es nicht er ist eigentlich utopischer Ort eines neuen Verhältnis von Mensch und Maschine geworden, die sich nunmehr nicht mehr nur feindselig gegenüberstehen. Vielleicht hat dieses Monster eine ganz andere Erscheinung. Vielleicht müsste man es irgendwie spiegelverkehrt zum Monster Frankenstein denken. Es erschiene als freundlicher Mensch, als gütig, wissend, erklärend, deutend, verstehend. Ein freundliches Wesen, ein Helfer in der Not, wo Verzweiflung herrscht, weil die Welt nicht mehr begriffen werden kann. Es wäre selbstlos, allgegenwärtig als Mentor ebenso wie ein Mäzen. Er gälte als letztes Leser der Gesellschaft, begehrt und verehrt, weil er die Bücher noch versteht; dabei die Menschen lehrend, dass es ein anderes gibt als ihre Unsicherheit, etwas nachdem sie alle begehren, aber nicht erreichen können. Doch bei diesem Leser-Mentor handelte es um eine holographische Projektion. Und dahinter stünde eine tote Maschine, eine Maschine ohne Maschinist. Eine Maschine, die sich unsichtbar in einem fort selbst reproduziert, ohne Bewusstsein, ohne Subjektivität, irgend einmal geschaffen, vielleicht in guter Absicht und dann vergessen, weil seine Schöpfer gestorben sind, nunmehr vor sich hin existierend ohne Sinn und Bedeutung. Doch in einem fort würde es die Erfahrung der Menschen registrierend, auswertend, akkumulierend, nur um dann nur umso weiser und erhabener zu werden, umso verehrenswerter zu erscheinen. Sie würde mächtiger und mächtiger diese Maschine, und die Menschen kleiner, demütiger, deprimierte, bis sie irgendeinmal selbst verschwänden, ohne auch nur zu erahnen diese Unsicherheit, der Verlust des Buches der Welt, der Gesellschaft nicht ihr Mangel bedeutet, sondern ihre Freiheit. Noch ist es nicht so weit, noch lesen wir und entziffern in einem fort selbst - zumindest, was Gebrauchsanweisungen anbelangt.

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