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<Abstract>
Die Erfahrung des
Lesens ist keine des Verstehens. Dieser Befund gilt auch für
den Vortrag. Was eine Vortragender zuhause niederschreibt, liest er
einem Publikum vor. Er inszeniert also, was er sagen, mitteilen will.
Dem gegenüber steht das freie Sprechen, Vor-Sprechen, das einen
Gedanken behutsam zu entwickeln versucht und so das - im Wortsinne -
Nach-Denken auf Seiten der Zuhörerschaft erlaubt. Vorlesen und
Vorsprechen stehen zueinander in einem vergleichbaren Verhältnis
wie das Schreiben und das Lesen von Literatur. Sprechen /
Lesen ist gerne sprachvergessen, in ihrem Fluss bleiben Wörter
und Sätze unverstanden; denn Verständnis baut zwar auf Lesen
auf, doch ist esnicht zwangsläufiges Resultat dessen. Es
gibt ein elementares Lesen, das dem Verstehen vorausgeht, den
Wortlaut, das signifiant wahrnimmt, losgelöst von der Bedeutung,
dem signifié. Diese befreite Lesen klammert das
Vorwissen aus, mit ihm das Verstehenwollen. Solches Lesen
geschieht in der abenteuerlichen Offenheit des Nicht-Verstehens. Ein
gelesener Text kann offen bleiben, indem er mehrere Möglichkeiten
zugleich anbietet, viele Wege einschlägt. Mallarmés Poesie
bietet ein Beispiel dafür (ein anderes ist der Hypertext). Es
muss demnach unterschieden werden zwischen einem
synthetisch-poetischen Lesen und einem analytisch-terminologischen
Lesen; ersteres erfordert Zerstreuung, letzteres Konzentration. Im
sinnlichen Rausch des lauten Lesens ergibt sich der Lesende erst
recht: er öffnet sich für die Substruktur eines Textes.
Vorlesen und Vorsprechen evozieren unterschiedliches
Verstehen: Der frei Sprechende demonstriert seine Präsenz und
bietet gleichsam Garantie für das Gesagte, er steht dazu; der
Vorlesende dagegen ist abwesend, das Wort trennt sich von ihm ab,
verselbständigt zielt es auf das Gemeinte. Statt des Wortlauts rückt
der Kontext ins Zentrum. Lesen ist stabil in der Zeit, von Dauer und
situativ ungebunden; Sprechen ist ephemer und abhängig von der
gegenwärtigen Situation. Der Übergang vom Gesagten zum
Gemeinten ist das Verstehen. Die Schwierigkeit resultiert daraus, dass
Gesagtes und Gemeintes nur selten mühelos zusammenfallen - und
wenn dennoch Einverständnis erzielt wird, bleibt das Gemeinte
unausgesprochen vieldeutig. Im Unterschied zur Literatur, die Gesagtes
und Gemeintes in Offenheit zueinander belässt, strebt das Gesetz
die völlige Deckung an. Vergleichbar der Diskrepanz
zwischen Vorlesen und Vorsprechen unterscheiden sich analytisches und
poetisches Lesen. Analytisch steht für Linearität, Poesie für
eine Verräumlichung. Sie entbirgt gleichsam die Zukunft eines
Textes, die Materialität der Wörter: Rhythmus
und Klang sind elementare Bestandteile davon. Dies verführt zur
These: Schrifttexte sollen auf jede Weise gelesen werden, so wie es
der WORTLAUT zulässt. Und: Alle Deutung ist erlaubt, wenn sie
sich durch das Gesagte belegen lässt. Poesie weist über
die mimetische Wiedergabe von Wirklichkeit hinaus, sie ist abhängig
vom Wie des Gesagten: cest le ton qui fait la musique. Darin ist
sie der Werbung verwandt, die mit vergleichbaren Mitteln arbeitet.
Emotionalität ist wichtiger als Inhalt. Allerdings verfolgen
Poesie und Werbung unterschiedliche Absichten. Literatur warnt vor dem
Realbezug, wogegen die Werbung das Reale anpreist und über die
Sprache hinausweist, indem Waren oder Handlungsweisen
angepriesen werden. Ähnlich der Werbung verfolgt auch der
Fanatismus derartige Strategien. Was ist der Wortlaut ohne
Sinn? Reine Materialität: Typen, Wortfolgen, Klänge. Im
Prozess der Interpretation wird er kontextualisiert: logisch
abgetastet, doch mit Misstrauen und Skepsis. Lautes Lesen macht den
Text zuerst sprechen, bevor er zum Lesenden spricht. Die Deutung
eines Textes, literarischen vorzugsweise, gleicht dem Akt des Übersetzens.
Eine lautliche und eine inhaltliche Ebene werden aus dem Text in mein
Verständnis davon übertragen: analytisch und synthetisch,
kontextuell und wortlautlich.
Im Band "LESEN UND
SCHREIBEN" (Urs Engeler Editor 1998) reflektiert Hans-Jost Frey über
diese beiden Handlungen, indem er behutsam die ihnen
zugrunde liegende Haltung ergründet. Sein in kurze Kapitel
unterteilter Text zeichnet sich durch eine Einfachheit und Klarheit
aus, die ganz ohne theoretischen respektive terminologischen Ballast
auskommt. Es geht Frey nicht darum, eine neue Theorie zu begründen,
schreibend versucht er sich lediglich darüber klar zu werden, was
im Vorgang des Lesens und Schreibens - zwei sich bedingender
Handlungen - vor sich geht. Gesagtes und Gemeintes sind nie
zweifelsfrei miteinander verbunden, zwischen ihnen steht das
spielerische Eigenleben des Textes: Literatur verkündet
nicht, sie erkundet.
(bm)
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