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<Abstract>
Lesen ist eine einfache
Sache - und zugleich ein höchst komplexer Vorgang, der die
verschiedensten Gehirnfunktionen mit einbezieht und aktiviert. Darin
liegt es begründet, dass mannigfache Lesestörungen vorkommen
können. An reiner Alexie Leidende beispielsweise sehen die
Schrift, doch sie können die einzelnen Buchstaben und Wörter
nur mit Mühe erfassen. Dem zugrunde liegt eine Verletzung im
linken Hirnlappen, wo die Analyse der visuellen Inputs geschieht.
Es gibt kein eigentliches Sprachareal im Gehirn.
Verschiedenste Zentren mit unterschiedlichen Funktionen, in beiden
Hirnhälften, sind beim Lesevorgang aktiv beteiligt. Als
Teilkompetenzen sind zu unterscheiden: 1. die lexikalische (das
Wortwissen), 2. die semantische (das Bedeutungswissen), 3. die
syntaktische (grammatisches Wissen), 4. die sprachlautliche (Kenntnis
der Ausspracheregeln - gerade auch beim Lesen!), die prosodische (die
Sprachmelodie betreffend) sowie die orthographische Kompetenz. Hinzu
kommen die gespeicherten Erinnerungen, die vorhandene Kenntnisse und
Informationen für den Verstehensprozess zur Verfügung
stellen. Visuelle Informationen werden in der linken Hirnhälfte
verarbeitet, das Kontext-Verstehen ist rechtshemisphärisch. Störungen
in diesem Zentrum können dazu führen, dass davon Betroffene
nur mehr wortwörtlich, ohne Subtext und Ironie verstehen.
Die hemisphärische Dominanz ist bei Schriftsprachen
unterschiedlich. Die alphabetische Sprache, wie wir sie kennen, ist
linkshemisphärisch, weshalb wir sie von links nach rechts
schreiben; die konsonantische Sprache des Arabischen und Hebräischen,
die stärker kontextabhängig sind, sind rechtshemisphärisch
und werden von rechts nach links gelesen. Die chinesische
Bilderschrift entzieht sich diesem Schema und kann von oben nach unten
gelesen werden. Entsprechend unterscheiden sich die
Verarbeitungsprozesse und die damit einhergehenden fundamentalen Störungen.
Lesen in seiner Gesamtheit, will es gelingen, verbindet
mehrere neuronale Systeme miteinander: es setzt sich zusammen aus
Reizaufnahme (Wahrnehmung), Bearbeitung (Lernen, Assoziation, Gedächtnis),
Bewertung (Emotionen) und willentlicher Aktion (Motorik, Absichten).
Insbesondere die Reizaufnahme ist dabei von interessanter Komplexität.
Das Hirn kennt ein zeitliche Organisation, die wesentlich
die Werte 30 Millisekunden und 3 Sekunden umfasst. Sie sind
fundamental für Wahrnehmung und Verarbeitung. Auf der
Netzhaut wird an den Photorezeptoren das eingefangene Licht in
neuronale Energie umgewandelt. Dabei müssen eine Vielzahl von
Reizqualitäten übermittelt werden. Die Netzhaut besitzt dafür
zwei Areale mit unterschiedlicher Beschaffenheit. Im Zentrum ist die
Fovea centralis, in der die Sinneszellen sehr dicht angeordnet sind.
Sie ist besonders leistungsfähig, zugleich aber träge,
wogegen die Peripherie der Netzhaut eher verschwommene Bilder liefert.
Analog dieser Zweiteilung ist das Auge über zwei unterschiedliche
Leitungsbahnen mit den Verarbeitungszentren verbunden. Eine
magnozelluläre Bahn verarbeitet schnell und ist daher prädestiniert
für Bewegungswahrnehmung. Wogegen die nur vom Zentrum wegführende
parvozelluläre Bahn eine höheres räumliches Auflösungsvermögen
mit grösserer Trägheit verbindet. Liest das Auge, so vollführt
es nun Blicksprünge innerhalb des Lesens; es fixiert einen Punkt,
springt und fixiert wieder einen Punkt. Die Trägheit der
parvozellulären Bahn wird dabei durch den Bewegungsmelder
der magnozellulären Bahn unterdrückt, das heisst die
P-Zellen nehmen das neue Bild auf, obgleich das alte noch nicht
abgeklungen ist. Es bedarf also beider Zelltypen für dieses
Wechselspiel. Hier kommt auch die zeitliche Organisation
ins Spiel. Lesen bedeutet stets lautes Lesen, auch wenn es längst
verinnerlicht ist. Dieses Verinnerlichen ist zentral beim
Lesen-Lernen. Tests mit akustischen Klickreizen ergeben beim Menschen
(zwischen 20 bis 30) einen Grenzwert von 30 ms, der erlaubt, zwei
Signale als verschiedene wahr zu nehmen und auseinander zu halten. Kürzere
Intervalle werden als ein Signal gehört (wobei Kleinkinder und ältere
Menschen höhere Werte haben). Diese zeitliche Ordnungsschwelle
spielt mit beim Lesevorgang. Tests mit Kindern, die unter
Sprachentwicklungsstörungen leiden, ergeben höhere Werte,
geben also Hinweis auf ein Zeitverarbeitungsdefizit, das sich als
Leseschwäche bemerkbar macht. Die 30 ms (als kleinste
Wahrnehmungseinheit) benötigen wir (durchschnittlich) für
die Wahrnehmung eines Buchstabens. Das zweite
Strukturintervall beträgt (cirka) drei Sekunden und steht für
eine Gliederung unseres Wahrnehmungsprozesses. Alle drei Sekunden geht
ein Zeitfenster für Informationsverarbeitung auf. In
diesem Takt gruppieren wir Musik, Verszeilen, Satzspiegel. Lese- und
Atempausen bei mündlicher Rede besitzen in etwa diese Länge.
Unsere neurobiologische Verfassung hätte demnach unsere
poetischen Leistungen mitgeprägt. Die Kultur steht in Einklang
mit jener.
(bm)
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